Costantino Ciervo
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Interview anlässlich der Ausstellung "wahr und falsch" im Kunstraum Syltquelle 2005/2006

Olaf Müller.Unter dem Eindruck eines sich selbst zunehmend entfesselnden Kapitalismus, der sich des Begriffes und der Mechanismen der Globalisierung mit durchaus eschatologischem Anspruch bedient, stellt sich mir die Frage, ob die Kunst mit ihren Zugängen, etwa der Dechiffrierung, Decodierung, der Übersetzung und Transformation letztlich nur noch bloßer Reflektor von Zuständen ist, die sie (die Kunst) längst überholt und abgeurteilt haben?

Costantino Ciervo:
Du sprichst einen wichtigen Punkt an, der sehr komplex ist. Es geht um die Rolle, die Macht oder doch Ohnmacht der Kunst, innerhalb der Reproduktionsprozesse des Kapitals der heutigen Gesellschaft in der Ära der Globalisierung. Meiner Meinung nach ist die Kunst kein Reflektor der Gesellschaft. Wenn die Kunst, mit den Worten Adornos, als authentische Valenz der Erkenntnis gilt, als eine Wahrhaftigkeit (Inhalt von Wahrheit), die sich in der Fähigkeit offenbart, den Mechanismen der totalitären Organisation der Gesellschaft zu entgehen, indem sie die erbarmungslose Unmenschlichkeit des Systems anklagt, dann ist die Kunst kein Reflektor der Realität sondern dient deren Entmystifizierung. Der Inhalt der Entmystifizierung kommt zum Ausdruck in einer Form der Kunst, die sich total unterscheidet von den perversen und banalen Zeichen der Realität. Die neuen Zeichen der Kunst können das Bewußtsein inspirieren/fördern. Sie können also meiner Meinung nach der Verdinglichung der persönlichen und kollektiven Existenz etwas entgegensetzen.
Unter Realität verstehe ich eine Gesellschaft, deren wirtschaftlichen Kräfte eine kulturelle und politische Unterlegenheit bei einem großen Teil der Bevölkerung verursachen und die Entscheidungskraft auf Null setzen. Ich beziehe mich auf eine Realität, in der der Geist (die Kultur und die Gedanken) der Bevölkerung verdinglicht, dass heißt zur Ware wird. Eine Realität, in der Informationen als Ziel das Mittel selbst als Tauschwert haben und nicht die Kreativität als Nutzungswert. Im Gegensatz zu Horckheimer und Adorno glaube ich nicht, dass der Kapitalismus in der Lage ist, durch seine hierarchischen Strukturen alles zu kontrollieren und zu determinieren. Innerhalb und gegen diese Teufelsmaschinerie, und hierbei beziehe ich mich auf Foucault und Negri, gibt es jemanden, der rebelliert, der den Körper begehrt, der nach Identität und einer neuen Sprache durstet. So gesehen denke ich, dass die Kunst die Fähigkeit besitzt, einen Beitrag zu dieser Rebellion zu leisten. Wobei ich unterstreichen möchte, dass der Ort, der am wenigsten geeignet ist, eine in dieser Weise wirksame Kunst zu zeigen, die private Galerie ist.


Olaf Müller.In Deinem Objekt "Aggression/Regression" gibt es Angriffe aus der Welt der Bilder oder der Natur (Vögel) auf die Welt der Buchstaben, Zeichensysteme, letztlich der technischen Welt des Binärcodes, und man beobachtet sie in Deiner Endlossequenz aus beiden Richtungen.
Also eher Angriff und Gegenangriff?

Aggression/Regression, 2005Costantino Ciervo. Wir leben in einer manichäischen Welt, die unterteilt in das ich und die anderen (Egoismus versus Solidarität), das Gute und das Böse (Okzident und die Demokratie versus Orient und die nichtwestliche Kultur), Homogenität und Heterogenität (TV von Murdoch und Berlusconi versus Identität und kulturelle Emanzipation), individuelle Freiheit und Kontrolle etc. Wir erleben eher unbewusst als bewusst eine globale Aggression seitens der Biomacht, also der kapitalistischen, hierarchischen Strukturen und durch den Einsatz der Technologie. Diese Aggression geschieht auf mystifizierte Art innerhalb einer Gesellschaft, die uns vorgaukelt, sie sei progressiv und liberal. In der Tat erleben wir eine Wissenschaft und einen Fortschritt, die jedes Sein oder Wesen durchdringen können aber wir (das Dasein) können die Wissenschaft nicht durchdringen. Die Kultur und der Gedanke der hierarchisch organisierten Gesellschaft ist dem Dasein entfremdet, schafft also Regression. In dieser Situation der Regression (das Hämmern der Tastaturen der Schreibmaschine) kommt es zum Angriff und Gegenangriff (symbolisiert durch die Möwen im Video) durch diejenigen, die das Bedürfnis nach Heterogenität der Körper, der Kultur, der Sexualität der Sinnlichkeit haben. Es ist ein Machtkampf zwischen denen, die eine Kultur der Homogenität durchsetzen wollen und denen, die Vielfältigkeit mögen.


Olaf Müller. Das Spiel mit wirklichen wie scheinbaren Paradoxien scheint ein Element Deiner Kunst zu sein.

Costantino Ciervo. Das Element der Paradoxie nimmt im allgemeinen eine wichtige Rolle in der Nachkriegskunst und auch in meiner Arbeit ein. Es ist der Treff- oder Kollisionspunkt, an dem eine authentische Reflexion entstehen kann über die Existenz. Das Paradox ist ein Spiel zwischen Unsinn und Klarheit, eine Herausforderung zum Nachdenken.
Es äußert sich manchmal in der philosophisch absoluten Form, manchmal in Form einer Zusammenstellung dichotomischer, zwiespältiger oder widersprüchlicher Elemente. In meiner Arbeit "Fortschritt" aus dem Jahr 2002 liegt beispielsweise ein Fall von klassischem Paradox vor, wie es Zenon von Elea in dem Wettrennen zwischen Achilles und der SchildkröteSenza Ttitolo, 1993 Fortschritt, 2002Gefangner der Kunst, 1997definiert hat. In "Fortschritt" sind die Schritte eines voranschreitendenMenschen auf einem Bildschirmzu sehen, der an einem Pendel schwingt. Obwohl die Füße sich zeitlich vorwärts bewegen, bewegen sie sich nicht im Raum, weil das Pendel an einem an der Wand fixierten Punkt schwingt: Aporie des Fortschritts betrachtet als statische Entwicklung der Gesellschaft.
Ein anderes klassisches Paradox findet man in einer älteren Arbeit von mir "ohne Titel" von 1992. Der Betrachter befindet sich gegenüber einer 64-stelligen Wahrheitstabelle, deren Werte "wahr" und "falsch" sich in ihr Gegenteil verkehren, sobald der Betrachter sich der Installation nähert: Aporie der Desinformation und der manichäischen Gesellschaft.
In anderen Fällen wird das Paradox zur Zwiespältigkeit wie zum Beispiel in der sehr komplexen Installation "Gefangener der Kunst" von 1997. Hierin wird u.a. das Abbild des Arbeitgeberpräsidenten Schleyer in dem bekannten Foto der RAF ersetzt durch ein Bild des Künstlers, in diesem Falle
von mir. Es ist ein Mittel, sich selbst zum Opfer zu erklären, gleichzeitig zum latenten Sympathisanten der RAF. Die schriftliche Mitteilung Profit, 2004deklariert den Entführtennicht als Opfer der RAF, sondern des Kunstmarktes: widersprüchliche Rolle derKunst in der Gesellschaft.
Um noch ein Beispiel für ein Paradox anzuführen möchte ich kurz auf eine neuere Arbeiteingehen, die Installation und Performance "Profit"von 2004. Bei der Performancezerschreddern sieben Akteure mittels Aktenvernichter ein Meer von Blättern mit den Namen der wichtigsten globalen Konzerne in dünne Papierstreifen. Wir wissen alle, dass sich hinter den großen Namen einzelner globaler Konzerne jeweils ein vielfältiges Netzwerk von Firmennamen verbirgt. Der Versuch, dass Herz zu treffen, indem man symbolisch den Namen vernichtet, beschleunigt stattdessen den Prozeß der Tarnung, verstärkt also die Unangreifbarkeit der multinationalen Konzerne. Denn um sich die Herrschaft über die Politik zu sichern, breiten sich die Konzerne in einem feinverzweigten Netz auf dem globalen Territorium aus (wie die Papierstreifen auf dem Boden), indem sie Namen und Zeichen ständig verändern: Aporie des Machtkonfliktes zwischen der profitorientierten Wirtschaft und der antagonistischen Kräfte, die quer durch alle Gesellschaftsschichten die Moltitudine bilden.
In dem Fall von "Aggression/Regression" handelt es sich um eine dichotomische Gegenüberstellung: auf einer Seite die digitale Welt (Mikroprozessor), auf der anderen die analoge Welt (die Möven). In allen diesen Paradoxien existiert meiner Meinung nach ein mentaler Kollisionspunkt, aus dem ein Wahrheitsinhalt, also ein Bewußtsein entspringt. Die Inhalte von Wahrheit und Bewusstsein sind immer progressiv, denn sie sind der Motor des Antagonismus, der wahre Entwicklung bringt.


Olaf Müller. Der vor zehn Jahren verstorbene Dramatiker Heiner Müller äußerte sich kurz vor seinem Tod dahingehend, dass Hoffnung ein Mangel an Information sei. Verborgene wie offenbare Informationen existieren in Deinen Arbeiten in einer Überfülle, die außerordentlich ist. Gibt es für Dich demnach da, wo weniger Mangel an Information ist, ein mehr an Hoffnung?
Hoffnung auf Hoffnung?

Costantino Ciervo. Der Grad der Intensität der Hoffnung verläuft direkt proportional zum qualitativen und quantitativen Stand des gewaltlosen globalen Antagonismus. Aus ihm entstehen die zunehmenden Informationen, die im Widerspruch stehen zu denen des globalen Kapitalismus. Zwar stimmt, was Paul Virilio sagt: es gibt eine unglaubliche Anzahl von Informationen, die sich mittels neuer Technologien (Internet, TV, Telefon, Satelliten etc.) mit Lichtgeschwindigkeit bewegen, durch diese Informationsflut wird jeder Akt der Verifizierung durch Erfahrung verhindert, also Erkenntnis ausgeschlossen. Es ist aber auch wahr, dass der globale Antagonismus spontan in zunehmend kreativerer und intelligenterer Weise neue Techniken der Selektion, des Lernens und der Vermittlung von Information mit authentischen Wahrheitsinhalten entwickelt. So gesehen fördern mehr Informationen mehr Kreativität, also mehr Hoffnung. Ich kann das Zitat von Heiner Müller verstehen, dessen Pessimismus aber nicht teilen. Die Hoffnung ist für mich umso präsenter, wenn sie nicht mit Ideologien verbunden ist. Mir scheint, dass der globale Antagonismus den Ballast der Vergangenheit, der positivistischen Rationalität abgeworfen und sich von Ideologien befreit hat. Und das gibt mir noch mehr Hoffnung.

Olaf Müller. Eine letzte Frage. Ist es Deiner Arbeit auf der Insel Sylt geschuldet, die dieser Ausstellung voranging, oder eine Entwicklung, die in diese Richtung geht, dass mir Deine im Kunst-Raum Syltquelle gezeigten Arbeiten weniger kryptisch scheinen, sondern auf mich poetischer wirken als Installationen und Objekte der vergangenen Jahre?

Costantino Ciervo. Als ich eingeladen wurde, einen Monat auf Sylt zu verbringen und dort auch eine Ausstellung vorzubereiten, wollte ich zunächst nicht dorthin fahren. Ich habe mich gefragt, was ich auf einer solch idyllischen Insel zu suchen habe, wo einzig die Natur präsent ist. Lieber wäre ich wieder nach Peking gegangen, um die Phänomene der Gesellschaft, die viel mehr mit meiner Arbeit zu tun haben, unmittelbar zu betrachten.
Schließlich habe ich mir aber gesagt, es muß doch einen Weg geben, meine Thematik zu behandeln, auch wenn die Umgebung nur aus Meer, Wind und Sand besteht.
Während der ersten Tage auf Sylt entschloß ich mich, die dort sehr präsenten Elemente wie Wasser, Sand und Wind in die Arbeit für die Ausstellung mit einzubeziehen. Daraus sind Kunstwerke entstanden, deren Inhalte politisch sind, deren Mittel technologisch sind, aber deren Form poetischen Charakter gewinnt aufgrund der starken Präsenz der Naturelemente. Die ersten beiden Punkte charakterisieren meine Kunst generell, der letzte hängt mit der physischen Umgebung zusammen. Die Arbeiten sind jedoch nur auf den ersten Blick weniger verschlüsselt oder kryptisch.